Auch Anne Große Stetzkamp und Tobias Mörth erleben an der Heinrich-Tellen-Schule in Warendorf einen zunehmenden Druck durch vermehrt aggressives Verhalten der Schülerinnen Foto: Michael Bönte
Mit wieviel Herzblut die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Heinrich-Tellen-Schule bei Warendorf zur Arbeit kommen, ist unübersehbar. Ein großer Teil ihres Einsatzes für die insgesamt 146 Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung im Alter von sechs bis 20 Jahren geschieht außerhalb der offiziellen Stellenbeschreibung. "On top", nennt das Anne Große Stetzkamp. Was die Sonderpädagogin und Lehrerin meint: Ihr Engagement und das ihrer etwa 45 Kolleginnen und Kollegen widmet sich oft den Herausforderungen, für die eigentlich keine Zeit vorgesehen ist. Kommunikation mit der Schulleitung und anderen Fachkräften über die Situation der einzelnen Kinder etwa, Planung und Steuerung von passenden Angeboten, Ausweitung individueller Möglichkeiten für die Schüler.
Kurz: 50 Wochenstunden sind keine Seltenheit. "Wir nehmen die Themen dann auch noch mit in den Feierabend und stehen morgens damit auf", sagt Große Stetzkamp. "Körperlich und emotional führt das fast alle an ihre Grenzen." Warum tut sie sich das an? "Weil wir Menschen lieben, weil wir jeden Fortschritt bei den Kindern und Jugendlichen feiern, weil wir manchmal vor Stolz platzen, wenn es vorwärts geht." Aber die Herausforderungen im Schulalltag mit den Kindern mit Behinderung wachsen stetig, hat sie festgestellt. "Aggressives Verhalten, physische Auseinandersetzungen oder psychische Ausnahmesituationen häufen sich."
Die Heinrich-Tellen-Schule ist keine Ausnahme. "Zunahme von herausforderndem Verhalten an Förderschulen für geistige Entwicklung sowie im Bereich der schulischen Bildung in NRW", nennt das ein Positionspapier, das von den Leitungen und Trägern von zwölf Förderschulen der Caritas für das Bistum Münster und weiteren kooperierenden Mitgliedern unterschrieben wurde. Neben der zunehmenden Anzahl von Schülerinnen und Schülern ist dort auch die Zahl von herausfordernden Verhaltensweisen gestiegen - das ist statistisch belegt. 94 Prozent der Lehrkräfte an Förderschulen sind Verhalten von Schlagen, Spucken und Treten ausgesetzt, konkretisiert das Papier. "Zehn Prozent der Befragten berichten sogar von täglichen Gewalterfahrungen", ist das Ergebnis einer Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). "Zudem berichteten 73 Prozent, dass sie regelmäßig psychischer Gewalt ausgesetzt sind."
Die Forderungen im Positionspapier sind deutlich: Mehr Personal in einem multiprofessionellen Team, mehr Zeit für Supervision und Fortbildungen sowie mehr Möglichkeiten, für die Schüler einen individuell angepassten Schulalltag zu schaffen. Dazu gehören etwa spezielle Räume mit Ruhebereichen und für therapeutische Angebote, flexible Klassengrößen oder der Einsatz von flankierenden Diensten der Psychotherapie, Logopädie, Ergotherapie oder Sozialarbeit. "Eine deutliche und schnelle Erhöhung der Finanzierung zur Schaffung von individuellen Settings für Schüler mit herausfordernden Verhaltensweisen und zur Begleitung deren Familien ist zwingend erforderlich", schließt das Papier.
Grundsätzlich geht es darum, den derzeitig hohen Standard an den Förderschulen aufrechterhalten und weiterentwickeln zu können. "Dort geschieht schon so viel Gutes, die Profile werden immer wieder angepasst, das Engagement der Mitarbeiter ist herausragend", sagt Tobias Mörth. Der Schulleiter an der Heinrich-Tellen-Schule spricht aber von einem "riesigen Kraftakt". "Denn viele Kollegen haben nicht nur das Wissen einer modernen Sonderpädagogik, sondern auch die Motivation, sie umzusetzen - aber nicht die Kapazität." Das Gefühl, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden zu können, stresst dann zusätzlich. "Wenn da personell und finanziell nicht nachgesteuert wird, habe ich in zehn Jahren keine Kollegen mehr."
Das derzeitige Fördersystem ist nun einmal 40 Jahre alt und passt nicht mehr zu den aktuellen Bedürfnissen, sagt Mörth. "Die Gesellschaft ändert sich und damit auch die Anforderungen an uns." Für die Zunahme von herausfordernden Verhaltensweisen sieht er viele Faktoren: Traumatisierung durch erlebte Gewalt, Flucht-Hintergründe, die Corona-Zeit oder vermehrt diagnostizierte autistische Behinderungen… "Die öffentliche Hand und die Caritas gehen innerhalb der gesetzlichen Möglichkeiten an ihre finanziellen und organisatorischen Grenzen." Das System kann sich in seiner Qualität aber nur halten, wenn die Voraussetzungen schnell angepasst werden. "Nur so können wir in unseren Schulen weiterhin eine moderne Sonderpädagogik leben - und das liegt uns allen am Herzen."
Von Recke bis Recklinghausen, von Emmerich bis Lengerich - die Caritas im Bistum Münster ist für Menschen in Notsituationen da. Ob Jung oder Alt, Alleinstehend oder Großfamilie, mit Behinderung oder Migrationshintergrund, körperlicher oder psychischer Erkrankung. Unter dem Motto "Not sehen und handeln" sind 80.000 hauptamtliche Mitarbeitende und 30.000 Ehrenamtliche rund um die Uhr im Einsatz. Für die Hilfe vor Ort sorgen 25 örtliche Caritasverbände, 18 Fachverbände des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) und 3 des SKM - Katholischer Verein für Soziale Dienste. Hinzu kommen unter anderem 57 Kliniken, rund 150 Einrichtungen der Behindertenhilfe, 205 Altenheime, 105 ambulante Dienste, 115 Tagespflegen, 27 Pflegeschulen, 89 Kindertageseinrichtungen und 22 stationäre Einrichtungen der Erziehungshilfe.
010-2025 (Text: Michael Bönte) 17. März 2025