Kara Ehlert kennt aus vielen Gesprächen mit Geflüchteten die unmenschliche und bedrohliche Situation von Jesidinnen und Jesiden in deren Heimat.Michael Bönte / Caritasverband für die Diözese Münster
Wenn Amir von jenen Tagen im August 2014 erzählt, braucht er Pausen. Immer dann, wenn die Erlebnisse von damals das Erträgliche übersteigen. Er zieht sich für einen Moment zurück, die Erinnerung an seine Ängste übermannen ihn. Für den Zuhörer sind es unvorstellbare Ereignisse, von denen der damals 17-jährige Jeside berichtet. "Ich habe immer wieder meine toten Freunde vor Augen", sagt er. "Und die Panik der Kinder bei der Flucht in die Berge." Als der sogenannte Islamische Staat (IS) in sein Dorf Zorawo im Shingal-Gebirge einfiel, konnte er mit seiner Familie gerade noch fliehen. "Die Menschen im Nachbarort wurden aber nicht vorgewarnt - dort wurden fast alle getötet." Oder verschleppt - auch seine Schwester.
All das, was folgte, traumatisierte ihn weiter. Die Zeit in den Bergen, in der die Menschen unter freiem Himmel verdursteten und verhungerten. "Ich habe viele tote schwangere Frauen und Kinder gesehen." In den Flüchtlingslagern, in denen die Zustände katastrophal waren. "Wir schliefen in Zelten, es gab keine Arbeit, keine Perspektive, keine Hoffnung". Und auf seiner weiteren Flucht über die Türkei nach Europa. "Schlepper prügelten mich halbtot und ließen mich einfach liegen." Zur selben Zeit, als der deutsche Bundestag 2023 beschloss, den Völkermord an den Jesiden anzuerkennen, kam Amir schließlich nach Deutschland und konnte einen Asylantrag stellen. Seither sind seine Duldungen zeitlich begrenzt. Der wichtigste Halt in seiner Situation ist seine Familie, die bereits seit mehreren Jahren in Deutschland lebt.
Zur Ruhe kommt er aber nicht, Angst ist sein ständiger Begleiter. Denn seit einiger Zeit droht ihm die Abschiebung. Immer wieder werden derzeit Jesidinnen und Jesiden, die in Nordrhein-Westfalen leben, in den Irak zurückgeschickt. Der Abschiebestopp endete vor etwa einem Jahr. Amir sagt, dass er jeden Abend dafür betet, nicht aus dem Bett geholt und zum Flughafen gefahren zu werden.
"Seine Abschiebung wäre eine menschliche Katastrophe", sagt die Referentin für Flucht, Migration und Integration des Diözesancaritasverbandes Münster, Kara Ehlert. "Wie für alle Jesidinnen und Jesiden." Denn ein Leben in ihrer Heimatregion sei keine Option. "Wer jetzt dorthin zurückkehrt, ist immer noch von Verfolgung, Gewalt, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit bedroht."
Diese Bedrohungen sind nachgewiesen. ,,Bewaffnete Konflikte zwischen Milizen, Luftangriffe und ein Machtvakuum - die Region ist von Instabilität geprägt", sagt Ehlert. "Auch wenn der IS als militärisch besiegt gilt, bestehen weiterhin ideologische Strukturen, die die Jesidinnen und Jesiden bedrohen." Zudem habe es kaum einen Wiederaufbau gegeben, die Lebensbedingungen in Shingal seien weiterhin prekär. "80 Prozent der öffentlichen Infrastruktur und 70 Prozent der Wohnhäuser sind zerstört." Nach einer Abschiebung bliebe nur das Leben in riesigen Flüchtlingslagern, in denen die Gesundheitsversorgung und Hygiene mangelhaft seien. ,,Die Ausweisung dorthin ist unmoralisch". Da viele dieser Camps derzeit geschlossen werden, droht zusätzlich die Obdachlosigkeit.
"Kein Dach über dem Kopf, schutzlos, Todesangst", so beschreibt Amir die Situation, die ihn erwarten würde. Eine Rückkehr an den Ort, an dem Freunde und Familienmitglieder getötet, seine Familie getrennt und sein Zuhause zerstört wurde, wäre retraumatisierend. Die Begegnung mit den Tätern von damals ist nicht unwahrscheinlich. "Das alles könnte ich nicht mehr ertragen."
In einem Positionspapier fordert die Freie Wohlfahrtspflege NRW die Landesregierung auf, zu ihrer Verpflichtung zu stehen und Jesidinnen und Jesiden vor Verfolgung, Unterdrückung und Gewalt zu bewahren. "Diese Menschen müssen weiterhin das Gefühl und die Sicherheit haben, in ihrer neuen Heimat durch die Anerkennung des Völkermordes Gerechtigkeit erfahren zu können", sagt Ehlert. Der Abschiebestopp müsse wieder gelten: "Menschen, die als Überlebende des Völkermords anerkannt wurden, dürfen nicht in das Land abgeschoben werden, in dem der Völkermord stattfand."
Auch der Flüchtlingsrat NRW bekräftigt die Verantwortung des Landes, sich gegenüber dem Bund für eine Neubewertung der Lage von Jesiden im Irak einzusetzen. "Wir erinnern die Landesregierung an das im Koalitionsvertrag geleistete Bekenntnis zu ihrer ‚globalen humanitären Verantwortung‘", heißt es in einer von der Caritas in NRW unterzeichneten Petition. Aus dem Irak Geflüchteten, müsse der Aufenthalt in Deutschland gesichert werden. "Jegliche Abschiebungsmaßnahmen müssen zurückgestellt werden."
Von Recke bis Recklinghausen, von Emmerich bis Lengerich - die Caritas im Bistum Münster ist für Menschen in Notsituationen da. Ob Jung oder Alt, Alleinstehend oder Großfamilie, mit Behinderung oder Migrationshintergrund, körperlicher oder psychischer Erkrankung. Unter dem Motto "Not sehen und handeln" sind 80.000 hauptamtliche Mitarbeitende und 30.000 Ehrenamtliche rund um die Uhr im Einsatz. Für die Hilfe vor Ort sorgen 25 örtliche Caritasverbände, 18 Fachverbände des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) und 3 des SKM - Katholischer Verein für Soziale Dienste. Hinzu kommen unter anderem 57 Kliniken, rund 150 Einrichtungen der Behindertenhilfe, 205 Altenheime, 105 ambulante Dienste, 115 Tagespflegen, 27 Pflegeschulen, 89 Kindertageseinrichtungen und 22 stationäre Einrichtungen der Erziehungshilfe.