Jedes Foto auf dem Handy bringt Erinnerungen: Annette und Richard genießen dabei die vielen emotionalen Momente mit ihrer Pflegetochter.Michael Bönte / Caritasverband für die Diözese Münster
Der große emotionale Moment? Es ist Annette und Richard anzusehen, wie sie bei dieser Frage in ihren Erinnerungen wühlen. Nicht weil es diesen nicht gab, sondern weil sich so viele Augenblicke der vergangenen mehr als 20 Jahre dafür anbieten. "Vielleicht als sie das erste Mal Mama und Papa zu uns gesagt hat", versucht die Pflegemutter eine Auswahl. "Da haben wir eine Flasche Sekt geöffnet", erinnert sich der Pflegevater.
Diese Worte ihres Pflegekindes hatten eine lange Vorgeschichte - gespickt mit Ereignissen, die ihnen immer noch sichtbar nahegehen. Wenn das Paar aus Ibbenbüren von einzelnen Erlebnissen berichtet, macht es oft kleine Pausen. Ihre strahlenden Augen verraten dann, wie sehr sie den langen Weg genossen haben und immer noch genießen.
Annette konnte nach überstandener Erkrankung keine Kinder mehr zur Welt bringen. "Ein schwerer Schlag", erinnert sich die heute 60-Jährige an die Nachricht vor etwa 25 Jahren. "Wir hatten immer vorgehabt, eine große Familie zu gründen." Der Gedanke, dass dazu auch Pflege- oder Adoptivkinder gehören könnten, hatte da aber schon immer mitgeschwungen. "Wir betraten also kein völlig neues emotionales Feld."
Und so fragten sie schon bald beim Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Ibbenbüren an, wie sie ihren Pflegekinder-Wunsch erfüllen könnten. "Dort haben wir sofort alle Informationen und vor allem jede erdenkliche Unterstützung bekommen", sagt Richard. Eine intensive Zeit der Auseinandersetzung mit Kursen, Gesprächen und Aufgaben begann, erinnert er sich. "Wir haben fast ein kleines Buch geschrieben, so viele Fragen und Formalitäten waren zu klären." Auch der Blick auf den eigenen Lebensweg und die damit verbundene Gefühlswelt stand im Mittelpunkt. "Wir haben das als bereichernd empfunden, konnten viel über uns und unsere Reaktionen lernen."
Am Ende war ihnen bewusst, dass es nicht darum ging, dass es ein Wunschkind gibt, das sich ihrem Profil anpassen würde. "Das Kind wird uns an die Hand nehmen - mit unserer Geschichte, mit unseren Gefühlen, mit unseren Vorstellungen", beschreibt Annette. Nicht älter als fünf Jahre sollte es sein, das war ihre Voraussetzung. Die zuständigen Stellen nahmen in die Auswahl dann viele Informationen aus den vorangegangenen Gesprächen mit, um die neue Familiensituation gelingen zu lassen.
Die Auswahl benötigte deshalb Zeit. Und Geduld bei Annette und Richard. Der entscheidende Anruf kam dann im Urlaub in Italien. "Wir sind sofort auf die Autobahn und 20 Stunden nonstop nach Hause gefahren", erinnern sie sich. Danach ging es direkt zur Betreuerin des SkF. Eine Woche später gab es den ersten Kontakt mit ihrem späteren Pflegekind.
Ab diesem Zeitpunkt reihen sich die wertvollen Erinnerungen wie eine Perlenkette aneinander, von der ersten Begegnung an. "Eine halbe Stunde auf dem Spielplatz, ohne dass wir Kontakt aufnahmen", erinnert sich Richard. Sie waren vom Lachen, von der Natürlichkeit und der Energie der Vierjährigen begeistert. Als später die persönlichen Kontakte häufiger wurden, gab es für Annette einen weiteren Moment: "Wir sangen zusammen ein Lied und sie lernte den Text bis zum nächsten Treffen auswendig."
Einen "Funkenflug der Gefühle", nennen sie das im Rückblick. Gleichzeitig entwickelte sich auch eine Nachdenklichkeit. "Es stellten sich plötzlich tausende neue Fragen", sagt Richard. "Es waren keine Dokumente mehr - vor uns stand ein echter Mensch." Mit seiner Geschichte, Gefühlswelt und allen Erinnerungen an sein bisheriges Leben.
Das blieb immer präsent. Als das Mädchen einige Wochen später zu ihnen zog, groß wurde, zur Schule ging, Abitur machte, eine Lehre machte und ein Studium begann. Seine Vergangenheit, in der es viele negative Erfahrungen erleben musste, weil es kaum elterliche Fürsorge gab, durfte ihren Platz behalten. Es war den Pflegeeltern wichtig, dies zu ermöglichen. "Da gab es schon Momente, in denen wir fühlten, dass ihre Reaktionen aus einer Zeit vor unserem gemeinsamen Weg kamen", sagt Richard. "Verletzungen und Wunden wollte sie nie zeigen - immer musste Essen und Trinken für sie griffbereit sein." Die Pflegeeltern konnten das gut einordnen, auch aufgrund der guten Vorbereitung und bleibenden Begleitung durch den SkF. "Ich habe mich gefreut, wenn sie mal die Türen knallte - dann wusste ich, dass sie Kraft und Vertrauen hatte, ihre tiefen Gefühle rauszulassen", sagt Annette.
All diese Momente haben bereichernde Spuren hinterlassen - die anstrengenden, die lustigen, die traurigen, die tiefen… Zu den Geburtstagen der Familie sind zwei weitere Festtage dazugekommen: Der Familientag am 24. Januar, als die Tochter bei ihnen einzog. Und der 1. Dezember - jener Tag, an dem sie ihre volljährige Pflegetochter adoptieren konnten. Es werden weitere Feiertage dazukommen, sagt Richard. Und freut sich schon auf den nächsten: "Auf ihrem Examensball werden wir selig und stolz über die Tanzfläche schweben."
Von Recke bis Recklinghausen, von Emmerich bis Lengerich - die Caritas im Bistum Münster ist für Menschen in Notsituationen da. Ob Jung oder Alt, Alleinstehend oder Großfamilie, mit Behinderung oder Migrationshintergrund, körperlicher oder psychischer Erkrankung. Unter dem Motto "Not sehen und handeln" sind 80.000 hauptamtliche Mitarbeitende und 30.000 Ehrenamtliche rund um die Uhr im Einsatz. Für die Hilfe vor Ort sorgen 25 örtliche Caritasverbände, 18 Fachverbände des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) und 3 des SKM - Katholischer Verein für Soziale Dienste. Hinzu kommen unter anderem 57 Kliniken, rund 150 Einrichtungen der Behindertenhilfe, 205 Altenheime, 105 ambulante Dienste, 115 Tagespflegen, 27 Pflegeschulen, 89 Kindertageseinrichtungen und 22 stationäre Einrichtungen der Erziehungshilfe.
029-2025 (mib) 01. August 2025