Blick zurück auf entscheidende Jahre: Die mittlerweile erwachsene Pflegetochter fand im neuen Zuhause wieder Vertrauen in andere Menschen.Michael Bönte / Caritasverband für die Diözese Münster
Viele Situationen sind ihr erst später bewusst geworden. Gespürt hatte sie aber schon viel früher, dass ihre frühkindlichen Erlebnisse tiefe Spuren hinterlassen hatten. Nur einordnen konnte sie ihre Reaktionen und Eigenarten lange Zeit nicht. Dafür brauchte es viele Jahre der Reflexion und der Auseinandersetzung. Die Ruhe und Möglichkeit fand sie erst in einem neuen Zuhause, das ihr eine Pflegefamilie gab.
Sevda L. (Name geändert) hat familiäre Wurzeln in der Türkei und noch viele Verwandte dort. In Deutschland dagegen fehlten ihr vom Beginn ihres Lebens an die wichtigsten Bezugspersonen. "Meine Mutter starb bei meiner Geburt", sagt die 22-Jährige. "Mein Vater war total überfordert, diese Situation, Arbeit und Erziehung unter einen Hut zu bringen."
Tagsüber wurde sie oft bei Freunden untergebracht, abends war sie dann daheim bei einem Vater, der die wenige gemeinsame Zeit mit hohen Ansprüchen füllte. "Er wollte alles richtig machen, ein perfektes Zuhause, ich sollte seine Prinzessin sein." Eine Situation, die ihn viel Kraft kostete. "Er wurde krank, konnte sich kaum noch kümmern, wurde mit der Zeit selbst immer mehr zu einem Menschen, der Unterstützung brauchte."
Das Jugendamt erkannte die Situation, als sie gut zwei Jahre alt war, und vermittelte sie zu einer Pflegefamilie. In der sie aber "alles andere als glücklich" wurde. "Dort fühlte ich mich oft eingesperrt, Gewalt war ein Thema." Ihre Pflegemutter flüchtete in ein Frauenhaus und nahm sie mit. Mit vier Jahren hatte sie damit emotional bereits einen schweren Rucksack aufgesetzt bekommen.
Zu diesem Zeitpunkt kam es zu einem "entscheidenden Schnitt", wie Sevda L. es nennt. "Ohne ihn damals bewusst wahrzunehmen." Sie wurde von Pflegeeltern aufgenommen, die "mit unglaublich viel Geduld und Verständnis für mich da waren." Die es brauchte, denn ihr Rucksack blieb lange erdrückend - nicht nur für sie, auch für ihre Pflegemutter und ihren Pflegevater. "Ich saß in meinem Kinderbettchen ohne mich zu melden, wenn mir etwas fehlte", nennt sie ein Alltagsbeispiel. "Und ich hatte so viel Angst vor meinem neuen Vater, dass ich weinte und schrie, sobald er in meine Nähe kam."
Es kamen aber immer mehr "gute Momente" dazu, erinnert sie sich. "Ich durfte mich dreckig machen, Widerworte geben, auch mal Dinge kaputt machen." Als sie mit 14 Jahren einen Pflegebruder bekam, kam noch mehr Unruhe in ihren Alltag. Auch er brachte sein bisheriges Leben mit allen Herausforderungen mit. "Wir waren eine ganz normale Familie - nur alles ein wenig extremer."
Wenn sie berichtet, ist ihr anzumerken, was ihr diese Zeit bedeutet. "Es durfte krachen", sagt sie dann. "Es durfte laut werden, geschimpft werden, Türen durften knallen." Das galt vor allem auch für die Zeit ihrer Pubertät. Sie durfte Fehler machen, sich auch mal "total daneben benehmen". Der innerer Anspruch, perfekt sein zu müssen, niemanden zu enttäuschen und keine Angriffspunkte zu liefern, wich immer mehr einem anderen Gefühl, sagt sie: "Einem Vertrauen, das alles übertraf."
Es war ein langer Prozess. Die Steine in ihrem Rucksack waren viel zu schwer, als dass sie schnell mal so entsorgt werden konnten. In der Beziehung zu ihrem leiblichen Vater spürte sie das besonders. Der Kontakt zu ihm blieb all die Jahre, seine Ansprüche und seine eingeschränkten Möglichkeiten in der Zuwendung blieben auch. "Er entwickelte sich zu einem Gegenpol zu meinen Pflegeeltern." Mit der Zeit konnte sie das immer besser einordnen. "Ich verstand, dass Liebe unterschiedlich aussehen kann, und konnte entscheiden, welche Liebe mir guttat."
Sevda L. macht heute eine Ausbildung zur Erzieherin. "Ich wäre heute nicht hier, wo ich jetzt bin", sagt sie. "Ich hätte die Schule nicht beendet, kein Selbstvertrauen, keinen Halt." Wenn sie gefragt wird, in welchen Momenten ihr das bewusst wurde, antwortet sie unerwartet: "Immer dann, wenn meine Pflegeeltern und ich uns gestritten und wieder versöhnt haben - da wussten wir, was wir aneinander haben."
Von Recke bis Recklinghausen, von Emmerich bis Lengerich - die Caritas im Bistum Münster ist für Menschen in Notsituationen da. Ob Jung oder Alt, Alleinstehend oder Großfamilie, mit Behinderung oder Migrationshintergrund, körperlicher oder psychischer Erkrankung. Unter dem Motto "Not sehen und handeln" sind 80.000 hauptamtliche Mitarbeitende und 30.000 Ehrenamtliche rund um die Uhr im Einsatz. Für die Hilfe vor Ort sorgen 25 örtliche Caritasverbände, 18 Fachverbände des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) und 3 des SKM - Katholischer Verein für Soziale Dienste. Hinzu kommen unter anderem 57 Kliniken, rund 150 Einrichtungen der Behindertenhilfe, 205 Altenheime, 105 ambulante Dienste, 115 Tagespflegen, 27 Pflegeschulen, 89 Kindertageseinrichtungen und 22 stationäre Einrichtungen der Erziehungshilfe.
030-2025 (mib) 05. August 2025